
"late-line "
galerie peripherie tübingen
14.09.2012 - 28.10.2012
Die gemeinsame Ausstellung von Rafael Herman und Koho Mori-Newton zeigt eine überraschende und beeindruckende Nähe der beiden strengen und präzisen ausgestellten Werkgruppen, obwohl Fotografie und Zeichnung zuerst einmal nichts miteinander zu tun haben.
Die Fotos von Rafael Herman, aufgenommen in einem Wald bei Paris im Spätwinter 2011, zeigen in mehreren Reihen eine völlig unspektakuläre Staffelung von dünnen, grauen, unbelaubten Bäumen. Die Fotos innerhalb einer Reihe, die jeweils denselben Blickpunkt aufweisen, unterscheiden sich dennoch beträchtlich: durch eine schnelle, aber weitgehend kontrollierte Bewegung der Kamera erzeugt Rafael Herman im Bild Effekte, die wie Überblendungen, Verschiebungen, Doppelbelichtungen aussehen. Das selbst schon eigentümlich grafische Sujet, ein Wald aus dünnen grauen Stämmen, deren Äste und Zweige sich verflechten, wird immer weniger optisch erfassbar und geht zunehmend in eine grafische, zugleich repetitive und kontingente Anordnung von überwiegend senkrechten Linien über.
Das Gewirr von Linien, das so entsteht, nähert Fotografie und Zeichnung einander stark an: die energetische Spur der Einschreibung des Lichts im Foto wird überlagert, oder eher verschoben und gestört, durch eine Einschreibung der Hand; denn durch die Bewegung der Kamera entsteht eine paradoxe, aber der Bewegung genau entsprechende Verschiebung der Linien im fotografischen Bild. Durch diese Verschiebung verschwindet der Wald, das fotografische Sujet, zunehmend, es wird aus der Wahrnehmbarkeit gedrängt, und macht einem unlesbaren grafischen Liniengewirr Platz. Dieses Liniengewirr weist aber zugleich auch ein Moment von abstraktem Expressionismus auf: die bedeutungslosen, aber fast expressiven parallelen Spuren der sich indirekt einschreibenden, die Kamera bewegenden Hand.
Koho Mori-Newton geht von einem nahezu entgegengesetzten Pol aus: von einer Linie, die auf denkbar radikalste Weise ihre Lesbarkeit, sogar ihre Identität als Linie verweigert. Die dünnen, geraden, fast waagerechten Linien, die seine Papierarbeiten zu zeigen scheinen, sind weder dünn, noch gerade, noch Linien: es sind viele kürzere oder längere Striche, die so neutral wie möglich, aber nicht auf genau dieselbe Weise, ineinander, nebeneinander, übereinander und hintereinander gesetzt worden sind. Durch das Wegradieren eines Teils dieser scheinbar ganz einfachen Linien wird ihre wesentliche Nichtidentität verstärkt, aber schwerer wahrzunehmen. Es gibt keine Einheit der Einschreibung der Hand, und damit der Spur – keine Expression, kein Ausdruck; es gibt keine Einheit der Linie als Gestalt oder Form, als potentielle Grenze oder Umriss; es gibt keine Einheit der Fläche, da durch das Schichten und Wegradieren von Linien die Fläche destruiert wird – an die Stelle der Bildfläche tritt die teilweise aufgerissene, zerfaserte Materialität der Papierfläche.
Auf diese Weise nähert sich Koho Mori-Newton einem Nullpunkt der Linie, an der sie noch keine Spur, keine Kontur, kein Zeichen, keine Komposition der Fläche zeigt, sondern nur ein Spiel von Differenzen. Die sichtbare `Linie´ ist weder eine Linie noch mehrere Linien, sondern eine Vielheit von kleinen Abweichungen; sie erscheint wie eine Art Bündel von Linien oder eine verwaschene, schwankende Linie.
Dr. Johannes Meinhardt.
Abb. l. o.:
Rafael Y. Herman,"before the untiteled", Fotoprint, 50 x 70 cm, 2011
Abb. l. u.:
Koho Mori-Newton, "corrected line", Bleistift auf Japanpapier, 43,5 x 55 cm, 2012