Reinhold Engberding

Zu Reinhold Engberding und seiner Installation 'SUDARIUM
unter Mitarbeit von Holger B. Nidden-Grien
vom 20.09 bis 02.11.2013, in der Galerie peripherie
im Sudhaus, Tübingen
Eröffnung: Fr. 20.09.2013, 19 Uhr, in der Galerie peripherie

Reinhold Engberding, geb. 1954, studierte Landschaftsarchitektur und Freie Kunst in Kassel, Kiel und Den Haag; er lebt und arbeitet seit 1982 in Hamburg. Engberding hat verschiedene Auszeichnungen bekommen und war auch mit internationalen Stipendien, z.T. verbunden mit Lehraufträgen, in den letzten Jahren in Thailand, der Schweiz, Norwegen, den Niederlanden und wiederholt in den USA. 

Reinhold Engberding hat für Tübingen eine große Anzahl von Tuschezeichnungen auf Baumwolle geschaffen. Diese werden alle Wände der Galerie in der vollen Höhe des Raumes bedecken. Engberding kommt nicht von der Zeichnung oder der Malerei, er ist Bildhauer und arbeitet mit dem Raum.
Die Tuschezeichnungen auf Baumwolle entstehen nach Photovorlagen aus dem Internet. Seit geraumer Zeit beschäftigt er sich mit den Bildern von jungen Männern, die er darauf hin befragt, ob sie möglicherweise seine Söhne sein könnten. Is that my son? heißen alle Serien. Was Engberding in Tübingen zeigt, ist somit die Fortsetzung einer Reihe gleichlautender  Bildbefragungen, mit der er 2006 begann.
Dies scheint eine eigentümliche, übergriffige und sicher zunächst unsinnig erscheinende Befragung einerseits, andererseits jedoch eine - wenn man die Quellen, aus denen er die Bilder schöpft, betrachtet - stark mit Emotionen, mit Ängsten mit Vorbehalten oder Vorurteilen behaftete Befragung, was sie für ihn hoch interessant macht. Seine Quellen sind Pornoportale, die jungen Männer oft im Augenblick höchster Verzückung; eine weitere Serie besteht aus Bildern junger Revolutionäre des arabischen Frühlings, und schließlich beschäftigt er sich in der in Tübingen zu sehenden Reihe mit einer Gruppe von jungen Männern, die ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte, wie wir sie kennen, mit Bild, vollem Namen, Alter und dem vermuteten Verbrechen, das sie begangen haben sollen, auf einer offiziellen Website auftauchen (indianamugshots.net).
- Alle befragt er in gleicher Weise Is that my son?
Engberdings Interesse bei diesen drei genannten Gruppen ist weder die Suche nach erotischer Spannung, noch vordergründige revolutionäre Begeisterung oder Mitleid mit zu Unrecht Beschuldigten oder Bloßgestellten sondern die emotionale Sondersituation, in der sich diese Menschen befinden. Beweggründe sind vielleicht aber trotzdem Bewunderung über Unbekümmertheit und Mut und vielleicht auch stille Bewunderung für die vermeintlichen Vergehen, wobei er in den Bildern für Tübingen nicht unterschieden hat, ob dem Portraitierten Rauschgiftmissbrauch oder ein Kapitaldelikt vorgeworfen wird. Die Frage nach der möglichen Vater-Sohn-Beziehung wird damit auch zu einer Selbstbefragung: "wie weit kann ich gehen, wie weit soll, wie weit muss ich gehen". Und die potenziell unbegrenzten Bilderpools werden zur Quelle einer Sonderform des Selbstportraits.
Die verwendeten Baumwolltücher sind Teile von Bettlaken, teils eigene, teils anonyme, fremde. Die Tuschezeichnung hat er gewählt, weil sie etwas sehr Unmittelbares und nicht Veränderbares, also aus dem Moment heraus Entstandenes ist. Die Gesichter der aus der Fülle dieser mugshots Ausgewählten erfahren durch den Malprozess eine Veränderung hin zum Vertrauten, Liebenswerten – auch dies eine Form der Aneignung.
Er hat Bettlaken als Malgrund gewählt, weil es für ihn ein intimes Alltagsstück ist, mit dem man im Bewussten, noch vielmehr aber im Unbewussten verbunden ist. Das Laken nimmt Tränen, Schweiß und andere Körperflüssigkeiten auf und ist somit in seinen Augen prädestiniert für diese Portraitserie. Und der Galerieraum scheint ideal für diese Installation, geht dessen Charakter doch besonders über seine Höhe über den eines alltäglichen Raums hinaus. Hinzu kommt die zweite Ebene, die Empore, die in Engberdings Augen den sakralen Charakter noch verstärkt.
Und schließlich: die Galerie befindet sich im ehemaligen Sudhaus und der Titel der Ausstellung lautet SUDARIUM. Dies ist kein Wortspiel, um Ort und Arbeit in Verbindung zu bringen, diese Wortverbindung hat sich erst über die Recherchen zum Thema Schweißtuch ergeben. SUDARIUM ist das lateinische Wort für Schweißtuch, und das bekannteste unter diesen ist wohl das der Veronika. Die Tuscheportraits auf Stoff werden vermutlich auch beim Betrachter diese Assoziation wecken. Engberding macht die Dargestellten damit jedoch nicht zu Martyrern noch verherrlicht er sie, vielmehr weckt er diese und sicher auch andere Assoziation und lässt uns nachdenken über das Abbild einer Person und das Bild, das wir uns von ihr machen.
Diese Installation ist nicht konkret - und somit ausschließlich - für diesen Raum geplant; der Raum hat jedoch mit seinen Eigenheiten erheblich zu Engberdings innerem Diskussionsprozess beigetragen.

Zur Austellung "reversing a thing does not prove its revers"
von Reinhold Engberding
Galerie peripherie, 2017

Abb. li.: Raumansichten SUDARIUM, Galerie peripherie, 2013

 

 


 

 

"SUDARIUM"
galerie peripherie tübingen
18.01.2013 - 01.03.2013

 




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